Nie mehr Klassenfahrten?
Eine Branche stirbt!
Sehr geehrte Damen und Herren,
die Entwicklungen durch die Corona Krise sind für alle dramatisch. Das erfährt die gesamte Branche des Kinder- und Jugendreisens in einem ganz frühen Stadium – und zudem besonders schmerzhaft. Die Kultusministerien der Länder haben Schul- und Klassenfahrten unterbunden. Das ist unstrittig der absolut richtige Schritt im Maßnahmenplan zur Bekämpfung der Virus-Ausbreitung. Damit aber sind alle Organisationen rund um die Klassenfahrt bis mindestens zur Mitte des Jahres ohne jeden Auftrag.
Bei den Jugendreise-Verbänden gilt als sicher, dass nur wenige Schulfahrten-Veranstalter, Programmanbieter und Jugendunterkünfte diese Krise überleben werden. Zum Verständnis bedarf die Spezifika dieses besonderen Bereichs im Reisesegment der Erklärung:
Viele Anbieter sind gemeinnützig organisiert und arbeiten naturgemäß durchweg mit nur marginalen Erträgen. Rücklagen sind, der Gemeinnützigkeit geschuldet, kaum vorgesehen. Hilfskredite können für diesen Bereich kaum abgerufen werden, allein schon, weil die dafür vorgesehenen Bonitätsprüfungen ins Leere laufen und die Anbieter eingegangene Kreditverpflichtungen überhaupt gar nicht bedienen könnten.
Kinder und Jugendunterkünfte sind oft in ländlichen Regionen angesiedelt und sorgen dort für Arbeitsplätze, wo sonst wenig Arbeit zu finden ist. Noch dazu sind diese Arbeitsplätze oft im niedrig qualifizierten Bereich; der Anteil an Frauen unter den Mitarbeitenden ist insbesondere in Jugendunterkünften überproportional hoch. Einer vielbeachteten Studie des BMWi (2016) folgend sind insgesamt ca. 240.000 Menschen vom Kinder- und Jugendbereich abhängig.
Die Zahlen sind mehr als bedrohlich: der Einschätzung der Verbände zufolge werden nach der Krise nur noch 1/3 der Anbieter existieren. Dann werden anstatt der bisher etwa zwei Millionen Schülerinnen und Schüler, die in Deutschland jedes Jahr auf mehrtägige Klassenfahrt gehen deren Lehrerinnen und Lehrer trotz verzweifelter Anstrengungen für rund 800.000 Kinder keine Klassenfahrt mehr finden. Weil Unterkünfte, Programmanbieter, Erlebnispädagogen, Klettergärten und vieles mehr und nicht zuletzt die für eine sichere und gute Organisation oft nötigen Schulfahrtenveranstalter ganz einfach nicht mehr geben wird. Diese Verknappung wird besonders einkommensschwachen Familien die Teilhabe erschweren, weil gleichzeitig dramatische Preiserhöhungen Realität wären. Eine Erholung der Anbieterseite und damit eine Entspannung der Situation würde, wenn jetzt nicht reagiert wird, Jahre dauern.
Deshalb unsere Forderungen
an Eltern, Lehrer*innen, Schulleiter*innen, Schulträger, Schulaufsichtsbehörden und an die Kultusministerien der Bundesländer:
Wichtig wäre im Moment als Sofortmaßnahme, dass Stornokosten erhoben und bezahlt werden. Die Beträge sind für die einzelnen Eltern überschaubar; im Übrigen ist das Budget dafür (selbst bei sozial benachteiligten Eltern, für deren Kinder die Finanzierung der Fahrt durch Sozialämter oder Arbeitsagentur übernommen wurde), bei den Eltern ja zweifelsfrei vorhanden.
Mit der Begleichung angemessener Stornokosten kann jeder Einzelne mit seinem überschaubaren und ja unstrittig vorhandenen (das Geld für die Klassenfahrt war ja eingeplant!) finanziellen Beitrag zum Erhalt einer gesamten Branche maßgeblich beitragen. Wir hoffen, mit und für die Mitglieder unseres Verbandes, gemeinsam diese für alle Akteure rund um die Klassenfahrten existenzbedrohende Krise bewältigen zu können. Die solidarische Mitwirkung von Eltern, Schulen und Lehrerschaft, der Schulträger, Schulaufsichtsbehörden und der Ministerien der Länder ist dafür zwingend nötig. Klassenfahrten, wie Generationen von Schülerinnen und Schülern sie kannten, mit ihren vielfältigen, wichtigen Aspekten für die Entwicklung und das Erfahren am außerschulischen Lernort, wird es sonst nach Corona nicht mehr geben.
Wir danken allen Beteiligten für die erforderliche Unterstützung und bleiben zuversichtlich.
Mit besorgten Grüßen
Holger Seidel
Vorstandsvorsitzender Reisenetz e. V.